Leben in der Sirupzeit

Dieser Tage fragte ich mich aus einem Anlass heraus, den ich nicht mehr rekonstruieren kann, ob denn diese Autobahn da auf der anderen Seite der Elbe wohl schon weiter ist, oder gar fertig? Die A26 von Stade, oder war es gar Cuxhaven? zum Maschener Kreuz (oder wohin?) Früher™ bin ich in der Saison gefühlt jeden Sonnabend früh um sieben die B 73 vom Anschluss Heimfeld nach Deinste zum Sunrise-Turnier des örtlichen Golfclubs gefahren, da kannte ich jeden Hasen mit Vornamen, wusste, wo die Blitzer standen, erfreute mich im Herbst an den glühendroten Weinblättern an den Lärmschutzwänden vor Buxtehude, hoffte, dass die Kartoffeln-Spargel-Erdbeeren-Bude am Seitenstreifen auf dem Rückweg nachmittags noch geöffnet wäre, kicherte über das in Chrom gegossenen Autoklischee (Burgunderfarbener Mercedes E-Klasse mit Anhängerkupplung und goldenen Felgen) vor dem Freudenhaus an der Kreuzung in Hedendorf – oder war es Nottendorf? Ich weiß es nicht mehr. Und natürlich fuhr ich an dem Bauabschnitt vorbei, an dem sich herzlich wenig zu tun schien, aber dessen Beschilderung eine strahlende Zukunft in Aussicht stellte.
Ich bin nun schon länger nicht mehr da längs gefahren. Da ich aus gesundheitlichen Gründen kein Golf mehr spielen konnte und kein Auto mehr brauchte, habe ich es erst neulich™ erst verkauft, und wenn man kein Golf spielt, gibt es eher wenig Anlässe, dort hinzufahren.
„Neulich™ erst “war übrigens 2012. Vor elf Jahren.
Wenn man, wie ich, alleine ein relativ ereignisarmes, dafür umso routinierter gestaltetes Leben führt, dann kann man schon mal denken, es passiert ja eigentlich nichts. Die Zeit ist wie Sirup, sie zieht Fäden, klebt, ist ein schwarzes Loch, die Süße ist mal ganz wunderbar, wird aber schnell zuviel. Die Tage gleichen sich, die Themen gleichen sich, „das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss“ hiess es mal in einem – natürlich – französischen Film aus den 80ern, und nein, das ist selbst für mich nicht mehr neulich. Aber eigentlich ist es eher ein reißender Strom, wir kriegen es nur nicht so recht mit, so lange wir mit gebührendem Abstand am Ufer sitzen und nicht brüllend von der Strömung fortgetragen werden.
Ich habe nicht einmal Covid und den Lockdown als Ausrede; seit 2020 steht ja für uns alle die Zeit still oder hat sich einerseits ungeheuer verlangsamt. Wir hatten hier, anders als andere Länder, keinen echten Lockdown. Die Leute, die hierzulande von Lockdown faseln sind vermutlich dieselben, die jedes Jahr an Karfreitag unbedingt tanzen gehen wollen. Vielleicht hat aber die erzwungene, vorübergehende Entschleunigung in Kombination mit dem unfassbaren Stress, der insbesondere auf Familien lag und liegt, dieses Sirupzeitphänomen etwas sichtbarer gemacht.
Ich schaue fasziniert an diesem Fluss zu, wie sämtliche Errungenschaften des Zeitalters der Aufklärung, welche in Frage zu stellen ich erst neulich™ noch nie auf die Idee gekommen wäre, hinfortgerissen werden. Nicht nur hierzulande, sondern weltweit. Das passiert, wenn man sich treiben lässt, ohne sich zu bewegen. Und es passiert genauso, wenn man wie ein Hund nach dem eigenen Schwanz schnappt, sich immer schneller im Kreise drehend. Wenn man hektisch durch tiktok-Videos oder die Fernsehkanäle zappt und am Ende das Gefühl hat, man sei jetzt informiert und auf Stand. Jedenfalls bis zum nächsten Morgen.
Unser aller Gedächtnis und Aufmerksamkeitsfähigkeit ist komplett zum Teufel. Im schwarzen Siruploch. Je mehr wir danach suchen, desto mehr kleben wir fest. Wir springen von Thema zu Thema, dem alten Scherz folgend: „ADS? Ich hab’ ADSL!“ (Wie lange den wohl noch einer kapiert, so in Glasfaserzeiten?)
(Der Bau der A26 ist wohl noch nicht nennenswert vorangekommen, wenn ich das auf Google Maps richtig deute. Die lästigen Naturschützer haben vor Gericht größtenteils gewonnen, was aber Jahre dauerte und nun wird umgeplant und blablabla, Sie kennen das. Hier der Wikipedia-Link dazu.)