Lieblinks 3/2023

Irgendjemand, im Zweifel Herr Buddenbohm, beklagte es unlängst: Es wird immer schwieriger, Texte im Netz zu finden, die man lesen oder gar empfehlen möchte. Ich kann das nicht unterschreiben, mein Feedreader hat 1000+ ungelesene Einträge aus Blogs, natürlich nicht alle empfehlenswert, aber geschrieben wird wie eh und je. Vielleicht jedoch nicht unbedingt von denselben Leuten wie früher™. Man wird ja müde, oder es ist auch langsam alles gesagt. Aber geschrieben wird. Es wird auch ge-podcastet, da kann ich jetzt nicht so viel zu sagen (haha), ich höre kaum Podcasts. Ich schaue jedoch eine Vielzahl von Videoclips pro Woche, mehr, als mir wahrscheinlich guttut, aber ich bin einfach fasziniert und erfreut von der kreativen Vielfalt auf TikTok.
In der letzten Woche habe ich erstmals dort zuallererst von Nachrichten erfahren, die mir bis dato auf Mastodon noch nicht begegnet waren. Das mag natürlich daran liegen, dass ich auf TikTok niemandem folge, sondern nur das konsumiere, was mir der (ausgezeichnete) Algorithmus dort vorschlägt, während Mastodon mir nur den Output derjenigen anzeigt, die ich dort abonniert habe bzw. denen ich folge. Wenn die nichts sagen, herrscht halt Schweigen im Walde. Ich schaue übrigens gerade genau hin, wer dort nur (von Twitter) crosspostet, das dürfte sich ja dieser Tage mit dem Ende der für alle kostenlosen und offenen Twitter-API – und damit dem Ende der Crossposting-Werkzeuge – herausstellen. Und ich Kondo-e weiterhin meine Timeline (der enervierenden, mitunter erheiternden Angewohnheit der Amerikaner folgend, aus einem Nomen ein Verb zu machen): Wenn es keinen joy sparked, fliegt es raus. Ich weiß übrigens nicht, ob das nun so viel freundlicher formuliert ist als „kärchern“, was ich sonst zu diesem Vorgang sage und woran sich einmal jemand™ sehr gestört hat. Das klänge ja doch sehr nach, pardon, „Scheiße vom Hof spritzen“ und da ist natürlich was dran. Nur, dass ich damit nicht die Leute meine, die den Unrat (in Form von schlechten Nachrichten, Skandalen etc.) in meine Timeline tragen, sondern den Unrat selbst. Aber ich habe es lange aufgegeben, Menschen – noch dazu im Internet – etwas erklären zu wollen, denen Meinung ohnehin feststeht, und die keine fruchtbare Diskussion, sondern bedingungslose Unterwerfung gegenüber ihren Prinzipien wünschen. Zu ersterem bin ich bereit, und, bis zu einem gewissen Punkt, auch fähig. Letzteres gibt es hier leider nicht, désolée. This woman won’t weesht.
Aber ich schweife ab.
Dieser Clip zeigt Menschen im England von 1906, hauptsächlich Männer, darunter viele Kinder, die sich fasziniert um eine Kamera scharen und herumalbern, wie Menschen das auch heute noch angesichts einer Kameralinse tun. Wie wenig kindlich die Kindergesichter aussehen! Das sind lauter alte Leute in Kinderkörpern. Wenig verwunderlich, war Kinderarbeit in England vor rund 120 Jahren doch noch an der Tagesordnung. Hinzu kommt ihre „Erwachsenenkleidung“ – Hemd, Hosenträger, Weste und/oder Anzugjacke, Mütze, manchmal eine Krawatte. Viele unter ihnen werden nur acht Jahre später in Frankreich einen sinnlosen Krieg kämpfen und sterben, oder, wenn sie denn glücklich nach Hause zurückkehren sollten, den Rest ihres Lebens sehr viel älter aussehen, als sie es eigentlich sind. Der Mensch, der den Clip kommentiert, beschäftigt sich mit dem Medium, durch das wir in diese Gesichter schauen. Er bittet uns darum, in den Gedanken diesen Menschen das Gerät vorzustellen, auf dem wir, rund 120 Jahre später, diese Bilder sehen (vermutlich ein Smartphone), und dann die Plattform (tiktok) zu erklären, auf der wir diesen Clip betrachten. In welchem Rahmen sie uns begegnet sind, welcher Clip lief unmittelbar vor diesem, welcher kommt danach? Es ist eine faszinierende gedankliche Übung.
***
Außerdem:
- Thomas Knüwer über das vorhersehbare Sterben von Gruner + Jahr
- Jochen Metzger, etwas näher dran, über dasselbe Thema
- Frau Herzbruch hat ein paar passende Worte zu Frau Faeser gefunden, denen ich mich uneingeschränkt anschließen möchte
- Chuck Jones’ Regeln für Wile E. Coyote (wie heißt der eigentlich auf Deutsch?) gefallen mir gut. Besonders “No dialogue ever, except “Beep-Beep!”. Ich habe ja ein paar Figuren im #Bärenabo, die nur „Quack“ oder „Rrah“ sprechen, und es ist immer eine Herausforderung, ihre Dialoge so darzustellen, dass die geneigte Leserschaft dennoch ahnt, wenn nicht gar weiß, worum es sich gerade dreht.